Lorbas
2008-11-07 17:17:11 UTC
Elemente des Antisemitismus - Grenzen der Aufklärung
Von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno
aus: Dialektik der Aufklärung - Philosophische Fragmente.
Elektronische Quelle: http://www.nadir.org
V
"Ich kann dich ja nicht leiden - Vergiß das nicht so leicht" sagt
Siegfried
zu Mime, der um seine Liebe wirbt. Die alte Antwort aller Antisemiten ist
die Berufung auf Idiosynkrasie. Davon, ob der Inhalt der Idiosynkrasie zum
Begriff erhoben, das Sinnlose seiner selbst innewird, hängt die
Emanzipation der Gesellschaft vom Antisemitismus ab. Idiosynkrasie aber
heftet sich an Besonderes. Als natürlich gilt das Allgemeine, das, was
sich in die Zweckzusammenhänge der Gesellschaft einfügt. Natur aber, die
sich nicht durch die Kanäle der begrifflichen Ordnung zum Zweckvollen
geläutert hat, der schrille Laut des Griffels auf Schiefer, der durch und
durch geht, der haut goût, der an Dreck und Verwesung gemahnt, der
Schweiß, der auf der Stirn des Beflissenen sichtbar wird; was immer nicht
ganz mitgekommen ist oder die Verbote verletzt, in denen der Fortschritt
der Jahrhunderte sich sedimentiert, wirkt penetrant und fordert
zwangshaften Abscheu heraus.
Die Motive, auf die Idiosynkrasie anspricht, erinnern an die Herkunft. Sie
stellen Augenblicke der biologischen Urgeschichte her: Zeichen der Gefahr,
bei deren Laut das Haar sich sträubte und das Herz stillstand. In der
Idiosynkrasie entziehen sich einzelne Organe wieder der Herrschaft des
Subjekts; selbständig gehorchen sie biologisch fundamentalen Reizen. Das
Ich, das in solchen Reaktionen, wie der Erstarrung von Haut, Muskel, Glied
sich erfährt, ist ihrer doch nicht ganz mächtig. Für Augenblicke
vollziehen sie die Angleichung an die umgebende unbewegte Natur. Indem
aber das Bewegte dem Unbewegten, das entfaltetere Leben bloßer Natur sich
nähert, entfremdet es sich ihr zugleich, denn unbewegte Natur, zu der, wie
Daphne, Lebendiges in höchster Erregung zu werden trachtet, ist einzig der
äußerlichsten, der räumlichen Beziehung fähig. Der Raum ist die absolute
Entfremdung. Wo Menschliches werden will wie Natur, verhärtet es sich
zugleich gegen sie. Schutz als Schrecken ist eine Form der Mimikry. Jene
Erstarrungsreaktionen am Menschen sind archaische Schemata der
Selbsterhaltung: das Leben zahlt den Zoll für seinen Fortbestand durch
Angleichung ans Tote.
Zivilisation hat anstelle der organischen Anschmiegung ans andere,
anstelle
des eigentlich mimetischen Verhaltens, zunächst in der magischen Phase,
die organisierte Handhabung der Mimesis und schließlich, in der
historischen, die rationale Praxis, die Arbeit, gesetzt. Unbeherrschte
Mimesis wird verfemt. Der Engel mit dem feurigen Schwert, der die Menschen
aus dem Paradies auf die Bahn des technischen Fortschritts trieb, ist
selbst das Sinnbild solchen Fortschritts. Die Strenge, mit welcher im
Laufe der Jahrtausende die Herrschenden ihrem eigenen Nachwuchs wie den
beherrschten Massen den Rückfall in mimetische Daseinsweisen abschnitten,
angefangen vom religiösen Bildverbot über die Pädagogik, die den Kindern
abgewöhnt, kindisch zu sein, ist die Bedingung der Zivilisation.
Gesellschaftliche und individuelle Erziehung bestärkt die Menschen in der
objektivierenden Verhaltensweise von Arbeitenden und bewahrt sie davor,
sich wieder aufgehen zu lassen im Auf und Nieder der umgebenden Natur.
Alles Abgelenktwerden, ja, alle Hingabe hat einen Zug von Mimikry. In der
Verhärtung dagegen ist das Ich geschmiedet worden. Durch seine
Konstitution vollzieht sich der Übergang von reflektorischer Mimesis zu
beherrschter Reflexion. Anstelle der leiblichen Angleichung an Natur tritt
die "Rekognition im Begriff" die Befassung des Verschiedenen unter
Gleiches. Die Konstellation aber, unter der Gleichheit sich herstellt, die
unmittelbare der Mimesis wie die vermittelte der Synthesis, die
Angleichung ans Ding im blinden Vollzug des Lebens wie die Vergleichung
des Verdinglichten in der wissenschaftlichen Begriffsbildung, bleibt die
des Schreckens. Die Gesellschaft setzt die drohende Natur fort als den
dauernden, organisierten Zwang, der, in den Individuen als konsequente
Selbsterhaltung sich reproduzierend, auf die Natur zurückschlägt als
gesellschaftliche Herrschaft über die Natur. Wissenschaft ist
Wiederholung, verfeinert zu beobachteter Regelmäßigkeit, aufbewahrt in
Stereotypen. Die mathematische Formel ist bewußt gehandhabte Regression,
wie schon der Zauber-Ritus war; sie ist die sublimierteste Betätigung von
Mimikry. Technik vollzieht die Anpassung ans Tote im Dienste der
Selbsterhaltung nicht mehr wie Magie durch körperliche Nachahmung der
äußeren Natur, sondern durch Automatisierung der geistigen Prozesse, durch
ihre Umwandlung in blinde Abläufe. Mit ihrem Triumph werden die
menschlichen Äußerungen sowohl beherrschbar als zwangsmäßig. Von der
Angleichung an die Natur bleibt allein die Verhärtung gegen diese übrig.
Die Schutz- und Schreckfarbe heute ist die blinde Naturbeherrschung, die
mit der weitblickenden Zweckhaftigkeit identisch ist.
In der bürgerlichen Produktionsweise wird das untilgbar mimetische Erbe
aller Praxis dem Vergessen überantwortet. Das erbarmungslose Verbot des
Rückfalls wird selber zum bloßen Verhängnis, die Versagung ist so total
geworden, daß sie nicht mehr zum bewußten Vollzug gelangt. Die von
Zivilisation Geblendeten erfahren ihre eigenen tabuierten mimetischen Züge
erst an manchen Gesten und Verhaltensweisen, die ihnen bei anderen
begegnen, und als isolierte Reste, als beschämende Rudimente in der
rationalisierten Umwelt auffallen. Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu
vertraut. Es ist die ansteckende Gestik der von Zivilisation unterdrückten
Unmittelbarkeit: Berühren, Anschmiegen, Beschwichtigen, Zureden. Anstößig
heute ist das Unzeitgemäße jener Regungen. Sie scheinen die längst
verdinglichten menschlichen Beziehungen wieder in persönliche
Machtverhältnisse zurückzuübersetzen, indem sie den Käufer durch
Schmeicheln, den Schuldner durch Drohen, den Gläubiger durch Flehen zu
erweichen suchen. Peinlich wirkt schließlich jede Regung überhaupt,
Aufregung ist minder. Aller nicht-manipulierte Ausdruck erscheint als die
Grimasse, die der manipulierte - im Kino, bei der Lynchjustiz, in der
Führer-Rede - immer war. Die undisziplinierte Mimik aber ist das
Brandzeichen der alten Herrschaft, in die lebende Substanz der
Beherrschten eingeprägt und kraft eines unbewußten Nachahmungsprozesses
durch jede frühe Kindheit hindurch auf Generationen vererbt, vom
Trödeljuden auf den Bankier. Solche Mimik fordert die Wut heraus, weil sie
angesichts der neuen Produktionsverhältnisse die alte Angst zur Schau
trägt, die man, um in ihnen zu überleben, selbst vergessen mußte. Auf das
zwangshafte Moment, auf die Wut des Quälers und des Gequälten, die
ungeschieden in der Grimasse wieder erscheinen, spricht die eigene Wut im
Zivilisierten an. Dem ohnmächtigen Schein antwortet die tödliche
Wirklichkeit, dem Spiel der Ernst.
Gespielt wirkt die Grimasse, weil sie, anstatt ernsthaft Arbeit zu tun,
lieber die Unlust darstellt. Sie scheint sich dem Ernst des Daseins zu
entziehen, indem sie ihn fessellos eingesteht: so ist sie unecht. Aber
Ausdruck ist der schmerzliche Widerhall einer Übermacht, Gewalt, ehe laut
wird in der Klage. Er ist stets übertrieben, wie aufrichtig er auch sei,
denn, wie in jedem Werk der Kunst, scheint in jedem Klagelaut die ganze
Welt zu liegen. Angemessen ist nur die Leistung. Sie und nicht Mimesis
vermag dem Leiden Abbruch zu tun. Aber ihre Konsequenz ist das unbewegte
und ungerührte Antlitz, schließlich am Ende des Zeitalters das Babygesicht
der Männer der Praxis, der Politiker, Pfaffen, Generaldirektoren und
Racketeers. Die heulende Stimme faschistischer Hetzredner und Lagervögte
zeigt die Kehrseite desselben gesellschaftlichen Sachverhalts. Das Geheul
ist so kalt wie das Geschäft. Sie enteignen noch den Klagelaut der Natur
und machen ihn zum Element ihrer Technik. Ihr Gebrüll ist fürs Pogrom, was
die Lärmvorrichtung für die deutsche Fliegerbombe ist: der
Schreckensschrei, der Schrecken bringt, wird angedreht. Vom Wehlaut des
Opfers, der zuerst Gewalt beim Namen rief, ja, vom bloßen Wort, das die
Opfer meint: Franzose, Neger, Jude, lassen sie sich absichtlich in die
Verzweiflung von Verfolgten versetzen, die zuschlagen müssen. Sie sind das
falsche Konterfei der schreckhaften Mimesis. Sie reproduzieren die
Unersättlichkeit der Macht in sich, vor der sie sich fürchten. Alles soll
gebraucht werden, alles soll ihnen gehören. Die bloße Existenz des anderen
ist das Ärgernis. Jeder andere "macht sich breit" und muß in seine
Schranken verwiesen werden, die des schrankenlosen Graues. Was
Unterschlupf sucht, soll ihn nicht finden; denen, die ausdrücken, wonach
alle süchtig sind, den Frieden, die Heimat, die Freiheit: den Nomaden und
Gauklern hat man seit je das Heimatrecht vermehrt. Was einer fürchtet,
wird ihm angetan. Selbst die letzte Ruhe soll keine sein. Die Verwüstung
der Friedhöfe ist keine Ausschreitung des Antisemitismus, sie ist er
selbst. Die Vertriebenen erwecken zwangshaft die Lust zu vertreiben. Am
Zeichen, das Gewalt an ihnen hinterlassen hat, entzündet endlos sich
Gewalt. Getilgt soll werden, was bloß vegetieren will. In den
chaotisch-regelhaften Fluchtreaktionen der niederen Tiere, in den Figuren
des Gewimmels, in den konvulsivischen Gesten von Gemarterten stellt sich
dar, was am armen Leben trotz allem sich nicht ganz beherrschen läßt: der
mimetische Impuls. Im Todeskampf der Kreatur, am äußersten Gegenpol der
Freiheit, scheint die Freiheit unwiderstehlich als die durchkreuzte
Bestimmung der Materie durch. Dagegen richtet sich die Idiosynkrasie, die
der Antisemitismus als Motiv vorgibt.
Die seelische Energie, die der politische Antisemitismus einspannt, ist
solche rationalisierte Idiosynkrasie. Alle die Vorwände, in denen Führer
und Gefolgschaft sich verstehen, taugen dazu, daß man ohne offenkundige
Verletzung des Realitätsprinzips, gleichsam in Ehren, der mimetischen
Verlockung nachgeben kann. Sie können den Juden nicht leiden und imitieren
ihn immerzu. Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge, nachzuahmen, was
ihm Jude heißt. Das sind immer selbst mimetische Chiffren: die
argumentierende Handbewegung, der singende Tonfall, wie er unabhängig vom
Urteilssinn ein bewegtes Bild von Sache und Gefühl malt, die Nase, das
physiognomische principium individuationis, ein Schriftzeichen gleichsam,
das dem Einzelnen den besonderen Charakter ins Gesicht schreibt. In den
vieldeutigen Neigungen der Riechlust lebt die alte Sehnsucht nach dem
Unteren fort, nach der unmittelbaren Vereinigung mit umgebender Natur, mit
Erde und Schlamm. Von allen Sinnen zeugt der Akt des Reichens, das
angezogen wird, ohne zu vergegenständlichen, am sinnlichsten von dem
Drang, ans andere sich zu verlieren und gleich zu werden. Darum ist
Geruch, als Wahrnehmung wie als Wahrgenommenes - beide werden eins im
Vollzug - mehr Ausdruck als andere Sinne. Im Sehen bleibt man, wer man
ist, im Riechen geht man auf. So gilt der Zivilisation Geruch als Schmach,
als Zeichen niederer sozialer Schichten, minderer Rassen und unedler
Tiere. Dem Zivilisierten ist Hingabe an solche Lust nur gestattet, wenn
das Verbot durch Rationalisierung im Dienst wirklich oder scheinbar
praktischer Zwecke suspendiert wird. Man darf dem verpönten Trieb frönen,
wenn außer Zweifel steht, daß es seiner Ausrottung gilt. Das ist die
Erscheinung des Spaßes oder des Ulks. Er ist die elende Parodie der
Erfüllung. Als verachtete, sich selbst verachtende, wird die mimetische
Funktion hämisch genossen. Wer Gerüche wittert, um sie zu
tilgen, "schlechte" Gerüche, darf das Schnuppern nach Herzenslust
nachahmen, das am Geruch seine unrationalisierte Freude hat. Indem der
Zivilisierte die versagte Regung durch seine unbedingte Identifikation mit
der versagenden Instanz desinfiziert, wird sie durchgelassen. Wenn sie die
Schwelle passiert, stellt Lachen sich ein. Das ist das Schema der
antisemitischen Reaktionsweise. Um den Augenblick der autoritären Freigabe
des Verbotenen zu zelebrieren, versammeln sich die Antisemiten, er allein
macht sie zum Kollektiv, er konstituiert die Gemeinschaft der Artgenossen.
Ihr Getöse ist das organisierte Gelächter. Je grauenvoller Anklagen und
Drohungen, je größer die Wut, um so zwingender zugleich der Hohn. Wut,
Hohn und vergiftete Nachahmung sind eigentlich dasselbe. Der Sinn des
faschistischen Formelwesens, der ritualen Disziplin, der Uniformen und der
gesamten vorgeblich irrationalen Apparatur ist es, mimetisches Verhalten
zu ermöglichen. Die ausgeklügelten Symbole, die jeder konterrevolutionären
Bewegung eigen sind, die Totenköpfe und Vermummungen, der barbarische
Trommelschlag, das monotone Wiederholen von Worten und Gesten sind
ebensoviel organisierte Nachahmung magischer Praktiken, die Mimesis der
Mimesis. Der Führer mit dem Schmierengesicht und dem Charisma der
andrehbaren Hysterie führt den Reigen. Seine Vorstellung leistet
stellvertretend und im Bilde, was allen anderen in der Realität vermehrt
ist. Hitler kann gestikulieren wie ein Clown, Mussolini falsche Töne wagen
wie ein Provinztenor, Goebbels geläufig reden wie der jüdische Agent, den
er zu ermorden empfiehlt, Coughlin Liebe predigen wie nur der Heilend,
dessen Kreuzigung er darstellt, auf daß stets wieder Blut vergossen werde.
Der Faschismus ist totalitär auch darin, daß er die Rebellion der
unterdrückten Natur gegen die Herrschaft unmittelbar der Herrschaft
nutzbar zu machen strebt.
Dieser Mechanismus bedarf der Juden. Ihre künstlich gesteigerte
Sichtbarkeit wirkt auf den legitimen Sohn der gentilen Zivilisation
gleichsam als magnetisches Feld. Indem der Verwurzelte an seiner Differenz
vom Juden die Gleichheit, das Menschliche, gewahrt, wird in ihm das Gefühl
des Gegensatzes, der Fremdheit, induziert. So werden die tabuierten, der
Arbeit in ihrer herrschenden Ordnung zuwiderlaufenden Regungen in
konformierende Idiosynkrasien umgesetzt. Die ökonomische Position der
Juden, der letzten betrogenen Betrüger der liberalistischen Ideologie,
bietet dagegen keinen zuverlässigen Schutz. Da sie zur Erzeugung jener
seelischen Induktionsströme so geeignet sind, werden sie zu solchen
Funktionen willenlos bereitgestellt. Sie teilen das Schicksal der
rebellierenden Natur, für die sie der Faschismus einsetzt: sie werden
blind und scharfsichtig gebraucht. Es verschlägt wenig, ob die Juden als
Individuen wirklich noch jene mimetischen Züge tragen, die böse Ansteckung
bewirken, oder ob sie jeweils unterschoben werden. Haben die ökonomischen
Machthaber ihre Angst vor der Heranziehung faschistischer Sachwalter erst
einmal überwunden, so stellt sich den Juden gegenüber die Harmonie der
Volksgemeinschaft automatisch her. Sie werden von der Herrschaft
preisgegeben, wenn diese kraft ihrer fortschreitenden Entfremdung von
Natur in bloße Natur zurückschlägt. Den Juden insgesamt wird der Vorwurf
der verbotenen Magie, des blutigen Rituals gemacht. Verkleidet als Anklage
erst feiert das unterschwellige Gelüste der Einheimischen, zur mimetischen
Opferpraxis zurückzukehren, in deren eigenem Bewußtsein fröhliche Urständ.
Ist alles Grauen der zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projektion
auf die Juden als rationales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein
Halten mehr. Es kann real vollstreckt werden, und die Vollstreckung des
Bösen übertrifft noch den bösen Inhalt der Projektion. Die völkischen
Phantasien jüdischer Verbrechen, der Kindermorde und sadistischen Exzesse,
der Volksvergiftung und internationalen Verschwörung definieren genau den
antisemitischen Wunschtraum und bleiben hinter seiner Verwirklichung
zurück. Ist es einmal so weit, dann erscheint das bloße Wort Jude als die
blutige Grimasse, deren Abbild die Hakenkreuzfahne - Totenschädel und
gerädertes Kreuz in einem - entrollt; daß einer Jude heißt, wirkt als die
Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht.
Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in bloße
Natur verwandelt.
Die Juden selber haben daran durch die Jahrtausende teilgehabt, mit
Aufklärung nicht weniger als mit Zynismus. Das älteste überlebende
Patriarchat, die Inkarnation des Monotheismus, haben sie die Tabus in
zivilisatorische Maximen verwandelt, da die anderen noch bei der Magie
hielten. Den Juden schien gelungen, worum das Christentum vergebens sich
mühte: die Entmächtigung der Magie vermöge ihrer eigenen Kraft, die als
Gottesdienst sich wider sich selber kehrt. Sie haben die Angleichung an
Natur nicht sowohl ausgerottet als sie aufgehoben in den reinen Pflichten
des Rituals. Damit haben sie ihr das versöhnende Gedächtnis bewahrt, ohne
durchs Symbol in Mythologie zurückzufallen. So gelten sie der
fortgeschrittenen Zivilisation für zurückgeblieben und allzu weit voran,
für ähnlich und unähnlich, für gescheit und dumm. Sie werden dessen
schuldig gesprochen, was sie, als die ersten Bürger, zuerst in sich
gebrochen haben: der Verführbarkeit durchs Untere, des Dranges zu Tier und
Erde, des Bilderdienstes. Weil sie den Begriff des Koscheren erfunden
haben, werden sie als Schweine verfolgt. Die Antisemiten machen sich zu
Vollstreckern des alten Testaments: sie sorgen dafür, daß die Juden, da
sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, zu Erde werden.
(Referenz: http://www.antisemitismus.net/theorie/adorno-5.htm)
Von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno
aus: Dialektik der Aufklärung - Philosophische Fragmente.
Elektronische Quelle: http://www.nadir.org
V
"Ich kann dich ja nicht leiden - Vergiß das nicht so leicht" sagt
Siegfried
zu Mime, der um seine Liebe wirbt. Die alte Antwort aller Antisemiten ist
die Berufung auf Idiosynkrasie. Davon, ob der Inhalt der Idiosynkrasie zum
Begriff erhoben, das Sinnlose seiner selbst innewird, hängt die
Emanzipation der Gesellschaft vom Antisemitismus ab. Idiosynkrasie aber
heftet sich an Besonderes. Als natürlich gilt das Allgemeine, das, was
sich in die Zweckzusammenhänge der Gesellschaft einfügt. Natur aber, die
sich nicht durch die Kanäle der begrifflichen Ordnung zum Zweckvollen
geläutert hat, der schrille Laut des Griffels auf Schiefer, der durch und
durch geht, der haut goût, der an Dreck und Verwesung gemahnt, der
Schweiß, der auf der Stirn des Beflissenen sichtbar wird; was immer nicht
ganz mitgekommen ist oder die Verbote verletzt, in denen der Fortschritt
der Jahrhunderte sich sedimentiert, wirkt penetrant und fordert
zwangshaften Abscheu heraus.
Die Motive, auf die Idiosynkrasie anspricht, erinnern an die Herkunft. Sie
stellen Augenblicke der biologischen Urgeschichte her: Zeichen der Gefahr,
bei deren Laut das Haar sich sträubte und das Herz stillstand. In der
Idiosynkrasie entziehen sich einzelne Organe wieder der Herrschaft des
Subjekts; selbständig gehorchen sie biologisch fundamentalen Reizen. Das
Ich, das in solchen Reaktionen, wie der Erstarrung von Haut, Muskel, Glied
sich erfährt, ist ihrer doch nicht ganz mächtig. Für Augenblicke
vollziehen sie die Angleichung an die umgebende unbewegte Natur. Indem
aber das Bewegte dem Unbewegten, das entfaltetere Leben bloßer Natur sich
nähert, entfremdet es sich ihr zugleich, denn unbewegte Natur, zu der, wie
Daphne, Lebendiges in höchster Erregung zu werden trachtet, ist einzig der
äußerlichsten, der räumlichen Beziehung fähig. Der Raum ist die absolute
Entfremdung. Wo Menschliches werden will wie Natur, verhärtet es sich
zugleich gegen sie. Schutz als Schrecken ist eine Form der Mimikry. Jene
Erstarrungsreaktionen am Menschen sind archaische Schemata der
Selbsterhaltung: das Leben zahlt den Zoll für seinen Fortbestand durch
Angleichung ans Tote.
Zivilisation hat anstelle der organischen Anschmiegung ans andere,
anstelle
des eigentlich mimetischen Verhaltens, zunächst in der magischen Phase,
die organisierte Handhabung der Mimesis und schließlich, in der
historischen, die rationale Praxis, die Arbeit, gesetzt. Unbeherrschte
Mimesis wird verfemt. Der Engel mit dem feurigen Schwert, der die Menschen
aus dem Paradies auf die Bahn des technischen Fortschritts trieb, ist
selbst das Sinnbild solchen Fortschritts. Die Strenge, mit welcher im
Laufe der Jahrtausende die Herrschenden ihrem eigenen Nachwuchs wie den
beherrschten Massen den Rückfall in mimetische Daseinsweisen abschnitten,
angefangen vom religiösen Bildverbot über die Pädagogik, die den Kindern
abgewöhnt, kindisch zu sein, ist die Bedingung der Zivilisation.
Gesellschaftliche und individuelle Erziehung bestärkt die Menschen in der
objektivierenden Verhaltensweise von Arbeitenden und bewahrt sie davor,
sich wieder aufgehen zu lassen im Auf und Nieder der umgebenden Natur.
Alles Abgelenktwerden, ja, alle Hingabe hat einen Zug von Mimikry. In der
Verhärtung dagegen ist das Ich geschmiedet worden. Durch seine
Konstitution vollzieht sich der Übergang von reflektorischer Mimesis zu
beherrschter Reflexion. Anstelle der leiblichen Angleichung an Natur tritt
die "Rekognition im Begriff" die Befassung des Verschiedenen unter
Gleiches. Die Konstellation aber, unter der Gleichheit sich herstellt, die
unmittelbare der Mimesis wie die vermittelte der Synthesis, die
Angleichung ans Ding im blinden Vollzug des Lebens wie die Vergleichung
des Verdinglichten in der wissenschaftlichen Begriffsbildung, bleibt die
des Schreckens. Die Gesellschaft setzt die drohende Natur fort als den
dauernden, organisierten Zwang, der, in den Individuen als konsequente
Selbsterhaltung sich reproduzierend, auf die Natur zurückschlägt als
gesellschaftliche Herrschaft über die Natur. Wissenschaft ist
Wiederholung, verfeinert zu beobachteter Regelmäßigkeit, aufbewahrt in
Stereotypen. Die mathematische Formel ist bewußt gehandhabte Regression,
wie schon der Zauber-Ritus war; sie ist die sublimierteste Betätigung von
Mimikry. Technik vollzieht die Anpassung ans Tote im Dienste der
Selbsterhaltung nicht mehr wie Magie durch körperliche Nachahmung der
äußeren Natur, sondern durch Automatisierung der geistigen Prozesse, durch
ihre Umwandlung in blinde Abläufe. Mit ihrem Triumph werden die
menschlichen Äußerungen sowohl beherrschbar als zwangsmäßig. Von der
Angleichung an die Natur bleibt allein die Verhärtung gegen diese übrig.
Die Schutz- und Schreckfarbe heute ist die blinde Naturbeherrschung, die
mit der weitblickenden Zweckhaftigkeit identisch ist.
In der bürgerlichen Produktionsweise wird das untilgbar mimetische Erbe
aller Praxis dem Vergessen überantwortet. Das erbarmungslose Verbot des
Rückfalls wird selber zum bloßen Verhängnis, die Versagung ist so total
geworden, daß sie nicht mehr zum bewußten Vollzug gelangt. Die von
Zivilisation Geblendeten erfahren ihre eigenen tabuierten mimetischen Züge
erst an manchen Gesten und Verhaltensweisen, die ihnen bei anderen
begegnen, und als isolierte Reste, als beschämende Rudimente in der
rationalisierten Umwelt auffallen. Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu
vertraut. Es ist die ansteckende Gestik der von Zivilisation unterdrückten
Unmittelbarkeit: Berühren, Anschmiegen, Beschwichtigen, Zureden. Anstößig
heute ist das Unzeitgemäße jener Regungen. Sie scheinen die längst
verdinglichten menschlichen Beziehungen wieder in persönliche
Machtverhältnisse zurückzuübersetzen, indem sie den Käufer durch
Schmeicheln, den Schuldner durch Drohen, den Gläubiger durch Flehen zu
erweichen suchen. Peinlich wirkt schließlich jede Regung überhaupt,
Aufregung ist minder. Aller nicht-manipulierte Ausdruck erscheint als die
Grimasse, die der manipulierte - im Kino, bei der Lynchjustiz, in der
Führer-Rede - immer war. Die undisziplinierte Mimik aber ist das
Brandzeichen der alten Herrschaft, in die lebende Substanz der
Beherrschten eingeprägt und kraft eines unbewußten Nachahmungsprozesses
durch jede frühe Kindheit hindurch auf Generationen vererbt, vom
Trödeljuden auf den Bankier. Solche Mimik fordert die Wut heraus, weil sie
angesichts der neuen Produktionsverhältnisse die alte Angst zur Schau
trägt, die man, um in ihnen zu überleben, selbst vergessen mußte. Auf das
zwangshafte Moment, auf die Wut des Quälers und des Gequälten, die
ungeschieden in der Grimasse wieder erscheinen, spricht die eigene Wut im
Zivilisierten an. Dem ohnmächtigen Schein antwortet die tödliche
Wirklichkeit, dem Spiel der Ernst.
Gespielt wirkt die Grimasse, weil sie, anstatt ernsthaft Arbeit zu tun,
lieber die Unlust darstellt. Sie scheint sich dem Ernst des Daseins zu
entziehen, indem sie ihn fessellos eingesteht: so ist sie unecht. Aber
Ausdruck ist der schmerzliche Widerhall einer Übermacht, Gewalt, ehe laut
wird in der Klage. Er ist stets übertrieben, wie aufrichtig er auch sei,
denn, wie in jedem Werk der Kunst, scheint in jedem Klagelaut die ganze
Welt zu liegen. Angemessen ist nur die Leistung. Sie und nicht Mimesis
vermag dem Leiden Abbruch zu tun. Aber ihre Konsequenz ist das unbewegte
und ungerührte Antlitz, schließlich am Ende des Zeitalters das Babygesicht
der Männer der Praxis, der Politiker, Pfaffen, Generaldirektoren und
Racketeers. Die heulende Stimme faschistischer Hetzredner und Lagervögte
zeigt die Kehrseite desselben gesellschaftlichen Sachverhalts. Das Geheul
ist so kalt wie das Geschäft. Sie enteignen noch den Klagelaut der Natur
und machen ihn zum Element ihrer Technik. Ihr Gebrüll ist fürs Pogrom, was
die Lärmvorrichtung für die deutsche Fliegerbombe ist: der
Schreckensschrei, der Schrecken bringt, wird angedreht. Vom Wehlaut des
Opfers, der zuerst Gewalt beim Namen rief, ja, vom bloßen Wort, das die
Opfer meint: Franzose, Neger, Jude, lassen sie sich absichtlich in die
Verzweiflung von Verfolgten versetzen, die zuschlagen müssen. Sie sind das
falsche Konterfei der schreckhaften Mimesis. Sie reproduzieren die
Unersättlichkeit der Macht in sich, vor der sie sich fürchten. Alles soll
gebraucht werden, alles soll ihnen gehören. Die bloße Existenz des anderen
ist das Ärgernis. Jeder andere "macht sich breit" und muß in seine
Schranken verwiesen werden, die des schrankenlosen Graues. Was
Unterschlupf sucht, soll ihn nicht finden; denen, die ausdrücken, wonach
alle süchtig sind, den Frieden, die Heimat, die Freiheit: den Nomaden und
Gauklern hat man seit je das Heimatrecht vermehrt. Was einer fürchtet,
wird ihm angetan. Selbst die letzte Ruhe soll keine sein. Die Verwüstung
der Friedhöfe ist keine Ausschreitung des Antisemitismus, sie ist er
selbst. Die Vertriebenen erwecken zwangshaft die Lust zu vertreiben. Am
Zeichen, das Gewalt an ihnen hinterlassen hat, entzündet endlos sich
Gewalt. Getilgt soll werden, was bloß vegetieren will. In den
chaotisch-regelhaften Fluchtreaktionen der niederen Tiere, in den Figuren
des Gewimmels, in den konvulsivischen Gesten von Gemarterten stellt sich
dar, was am armen Leben trotz allem sich nicht ganz beherrschen läßt: der
mimetische Impuls. Im Todeskampf der Kreatur, am äußersten Gegenpol der
Freiheit, scheint die Freiheit unwiderstehlich als die durchkreuzte
Bestimmung der Materie durch. Dagegen richtet sich die Idiosynkrasie, die
der Antisemitismus als Motiv vorgibt.
Die seelische Energie, die der politische Antisemitismus einspannt, ist
solche rationalisierte Idiosynkrasie. Alle die Vorwände, in denen Führer
und Gefolgschaft sich verstehen, taugen dazu, daß man ohne offenkundige
Verletzung des Realitätsprinzips, gleichsam in Ehren, der mimetischen
Verlockung nachgeben kann. Sie können den Juden nicht leiden und imitieren
ihn immerzu. Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge, nachzuahmen, was
ihm Jude heißt. Das sind immer selbst mimetische Chiffren: die
argumentierende Handbewegung, der singende Tonfall, wie er unabhängig vom
Urteilssinn ein bewegtes Bild von Sache und Gefühl malt, die Nase, das
physiognomische principium individuationis, ein Schriftzeichen gleichsam,
das dem Einzelnen den besonderen Charakter ins Gesicht schreibt. In den
vieldeutigen Neigungen der Riechlust lebt die alte Sehnsucht nach dem
Unteren fort, nach der unmittelbaren Vereinigung mit umgebender Natur, mit
Erde und Schlamm. Von allen Sinnen zeugt der Akt des Reichens, das
angezogen wird, ohne zu vergegenständlichen, am sinnlichsten von dem
Drang, ans andere sich zu verlieren und gleich zu werden. Darum ist
Geruch, als Wahrnehmung wie als Wahrgenommenes - beide werden eins im
Vollzug - mehr Ausdruck als andere Sinne. Im Sehen bleibt man, wer man
ist, im Riechen geht man auf. So gilt der Zivilisation Geruch als Schmach,
als Zeichen niederer sozialer Schichten, minderer Rassen und unedler
Tiere. Dem Zivilisierten ist Hingabe an solche Lust nur gestattet, wenn
das Verbot durch Rationalisierung im Dienst wirklich oder scheinbar
praktischer Zwecke suspendiert wird. Man darf dem verpönten Trieb frönen,
wenn außer Zweifel steht, daß es seiner Ausrottung gilt. Das ist die
Erscheinung des Spaßes oder des Ulks. Er ist die elende Parodie der
Erfüllung. Als verachtete, sich selbst verachtende, wird die mimetische
Funktion hämisch genossen. Wer Gerüche wittert, um sie zu
tilgen, "schlechte" Gerüche, darf das Schnuppern nach Herzenslust
nachahmen, das am Geruch seine unrationalisierte Freude hat. Indem der
Zivilisierte die versagte Regung durch seine unbedingte Identifikation mit
der versagenden Instanz desinfiziert, wird sie durchgelassen. Wenn sie die
Schwelle passiert, stellt Lachen sich ein. Das ist das Schema der
antisemitischen Reaktionsweise. Um den Augenblick der autoritären Freigabe
des Verbotenen zu zelebrieren, versammeln sich die Antisemiten, er allein
macht sie zum Kollektiv, er konstituiert die Gemeinschaft der Artgenossen.
Ihr Getöse ist das organisierte Gelächter. Je grauenvoller Anklagen und
Drohungen, je größer die Wut, um so zwingender zugleich der Hohn. Wut,
Hohn und vergiftete Nachahmung sind eigentlich dasselbe. Der Sinn des
faschistischen Formelwesens, der ritualen Disziplin, der Uniformen und der
gesamten vorgeblich irrationalen Apparatur ist es, mimetisches Verhalten
zu ermöglichen. Die ausgeklügelten Symbole, die jeder konterrevolutionären
Bewegung eigen sind, die Totenköpfe und Vermummungen, der barbarische
Trommelschlag, das monotone Wiederholen von Worten und Gesten sind
ebensoviel organisierte Nachahmung magischer Praktiken, die Mimesis der
Mimesis. Der Führer mit dem Schmierengesicht und dem Charisma der
andrehbaren Hysterie führt den Reigen. Seine Vorstellung leistet
stellvertretend und im Bilde, was allen anderen in der Realität vermehrt
ist. Hitler kann gestikulieren wie ein Clown, Mussolini falsche Töne wagen
wie ein Provinztenor, Goebbels geläufig reden wie der jüdische Agent, den
er zu ermorden empfiehlt, Coughlin Liebe predigen wie nur der Heilend,
dessen Kreuzigung er darstellt, auf daß stets wieder Blut vergossen werde.
Der Faschismus ist totalitär auch darin, daß er die Rebellion der
unterdrückten Natur gegen die Herrschaft unmittelbar der Herrschaft
nutzbar zu machen strebt.
Dieser Mechanismus bedarf der Juden. Ihre künstlich gesteigerte
Sichtbarkeit wirkt auf den legitimen Sohn der gentilen Zivilisation
gleichsam als magnetisches Feld. Indem der Verwurzelte an seiner Differenz
vom Juden die Gleichheit, das Menschliche, gewahrt, wird in ihm das Gefühl
des Gegensatzes, der Fremdheit, induziert. So werden die tabuierten, der
Arbeit in ihrer herrschenden Ordnung zuwiderlaufenden Regungen in
konformierende Idiosynkrasien umgesetzt. Die ökonomische Position der
Juden, der letzten betrogenen Betrüger der liberalistischen Ideologie,
bietet dagegen keinen zuverlässigen Schutz. Da sie zur Erzeugung jener
seelischen Induktionsströme so geeignet sind, werden sie zu solchen
Funktionen willenlos bereitgestellt. Sie teilen das Schicksal der
rebellierenden Natur, für die sie der Faschismus einsetzt: sie werden
blind und scharfsichtig gebraucht. Es verschlägt wenig, ob die Juden als
Individuen wirklich noch jene mimetischen Züge tragen, die böse Ansteckung
bewirken, oder ob sie jeweils unterschoben werden. Haben die ökonomischen
Machthaber ihre Angst vor der Heranziehung faschistischer Sachwalter erst
einmal überwunden, so stellt sich den Juden gegenüber die Harmonie der
Volksgemeinschaft automatisch her. Sie werden von der Herrschaft
preisgegeben, wenn diese kraft ihrer fortschreitenden Entfremdung von
Natur in bloße Natur zurückschlägt. Den Juden insgesamt wird der Vorwurf
der verbotenen Magie, des blutigen Rituals gemacht. Verkleidet als Anklage
erst feiert das unterschwellige Gelüste der Einheimischen, zur mimetischen
Opferpraxis zurückzukehren, in deren eigenem Bewußtsein fröhliche Urständ.
Ist alles Grauen der zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projektion
auf die Juden als rationales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein
Halten mehr. Es kann real vollstreckt werden, und die Vollstreckung des
Bösen übertrifft noch den bösen Inhalt der Projektion. Die völkischen
Phantasien jüdischer Verbrechen, der Kindermorde und sadistischen Exzesse,
der Volksvergiftung und internationalen Verschwörung definieren genau den
antisemitischen Wunschtraum und bleiben hinter seiner Verwirklichung
zurück. Ist es einmal so weit, dann erscheint das bloße Wort Jude als die
blutige Grimasse, deren Abbild die Hakenkreuzfahne - Totenschädel und
gerädertes Kreuz in einem - entrollt; daß einer Jude heißt, wirkt als die
Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht.
Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in bloße
Natur verwandelt.
Die Juden selber haben daran durch die Jahrtausende teilgehabt, mit
Aufklärung nicht weniger als mit Zynismus. Das älteste überlebende
Patriarchat, die Inkarnation des Monotheismus, haben sie die Tabus in
zivilisatorische Maximen verwandelt, da die anderen noch bei der Magie
hielten. Den Juden schien gelungen, worum das Christentum vergebens sich
mühte: die Entmächtigung der Magie vermöge ihrer eigenen Kraft, die als
Gottesdienst sich wider sich selber kehrt. Sie haben die Angleichung an
Natur nicht sowohl ausgerottet als sie aufgehoben in den reinen Pflichten
des Rituals. Damit haben sie ihr das versöhnende Gedächtnis bewahrt, ohne
durchs Symbol in Mythologie zurückzufallen. So gelten sie der
fortgeschrittenen Zivilisation für zurückgeblieben und allzu weit voran,
für ähnlich und unähnlich, für gescheit und dumm. Sie werden dessen
schuldig gesprochen, was sie, als die ersten Bürger, zuerst in sich
gebrochen haben: der Verführbarkeit durchs Untere, des Dranges zu Tier und
Erde, des Bilderdienstes. Weil sie den Begriff des Koscheren erfunden
haben, werden sie als Schweine verfolgt. Die Antisemiten machen sich zu
Vollstreckern des alten Testaments: sie sorgen dafür, daß die Juden, da
sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, zu Erde werden.
(Referenz: http://www.antisemitismus.net/theorie/adorno-5.htm)